
Ich denke seit einiger Zeit über schamanische Intervention nach. Das Wort Intervention stammt vom lateinischen Verb intervenire, wörtlich auf Deutsch "(da)zwischenkommen". Mit dem deutschen Verb intervenieren ist gemeint: "dazwischentreten" bzw. "eingreifen".
Interventionen sind eine gängige Technik in verschiedensten Arbeitsbereichen und Disziplinen: von der Medizin, Psychologie, Pädagogik und Sozialarbeit über Regierungspolitik, Militär und Polizei bis zu Bildender Kunst oder Krisenmanagement. Die Intervention hat auch viele Traditionen in der Geschichte spiritueller Praktiken. Ein illustres Beispiel sind Schläge mit dem Keisaku auf die Schultern des:r meditierenden Zen-Schülers:in. Die Stock-Schläge dienen dazu, während der Meditation vom Einschlafen abzuhalten oder einen abdriftenden Geist zu refokussieren. Weitere Beispiele: Jede Korrektur von Yoga-Asanas oder Qigong-Stellungen ist eine Intervention; im Grunde auch jedes Bittgebet, das nicht dem Erhalt dient.
Interventionen zielen immer auf die Veränderung dessen, was gerade vor sich geht. Formal gesehen, gibt es ein wesentliches Element, das jede Intervention kennzeichnet: die Unterbrechung. Es gilt: keine Intervention ohne Unterbrechung.* Auf welche Art unterbrochen und wie die Intervention ansonsten ausgestaltet wird, kann sehr unterschiedlich sein. Der Schlag mit dem Keisaku im Zen etwa ist nonverbal, punktuell und vehement; er erzeugt direkten physischen Schmerz. Eine paradoxe Intervention in der Provokativen Therapie dagegen ist verbal bzw. gestisch-mimisch, prozessual und durch Humor gemildert; sie motiviert (im Idealfall) Reaktanz.
Logischerweise wird die schamanische Intervention wie jede andere dadurch charakterisiert, dass sie etwas** unterbricht. Über die Auswahl meiner Beispiele für intervenierende Unterbrechung habe ich nicht bewusst nachgedacht. Gleichzeitig sind sie nicht willkürlich gesetzt. Sie präsentieren wesentliche Elemente, die eine schamanische Intervention ausmachen: schlagartige Promptheit (hier metaphorisch gemeint); spielerische, bisweilen „unverschämte“ Herausforderung; Humor.
Dazu ein paar Erläuterungen:
Die schamanische Intervention nimmt immer den direkten, kürzesten Weg. Deshalb kommt sie mitunter wie die sprichwörtliche „geballte Ladung“ daher. Der Charakter schamanischer Konfrontation ist offen; jedenfalls in der Regel. D. h. nicht, dass er empathielos wäre. Im Gegenteil. Die schamanische Intervention verlangt ein hohes Maß an Empathie. (Hierauf komme ich an späterer Stelle des Artikels nochmal zurück.) Lediglich: Wer schamanisch interveniert, ist sich des vollen Ernstes der Situation bewusst – inklusive der Tatsache, dass wir Menschen keine Zeit für Umwege oder Beschönigungen haben, wenn es ums Wesentliche geht.
Die schamanische Intervention nutzt den Reiz ludischer Dynamiken, ihre Anziehungs-, Sog- und Zugkraft. Das spielerische Moment ermöglicht, existenziell bis dramatisch erlebte Angelegenheiten so zu perspektivieren, dass sie neugierig, lustvoll und experimentierfreudig bearbeitet werden können. Dieses Merkmal schamanischer Intervention ergänzt sich gut mit demjenigen der offenen Konfrontation. Denn durch spielerischen Umgang wird das Ungelöste, Problematische etc. vorübergehend in unverbindlich-simulativen Kontext umgelagert. Dort wird es ‚leichter‘, kann relativ beliebig gehandhabt und in mögliche Optionen weitergeleitet werden. Der ‚Affront‘ der Konfrontation wird annehmbar, weil er sich mit einer der ursprünglichsten menschlichen Lernformen koppelt. Die Kopplung schafft unweigerlich Aussichten. Denn im Tun-als-ob, das sich mit dem Angenommen-dass paart, weiß man nicht, was als Nächstes passiert; die Zukunft steht offen. Da ludische Dynamiken anderen Gesetzmäßigkeiten als die ‚Wirklichkeit‘ unterliegen, kann ein produktiver Transfer von dort nach hier stattfinden und der Lösung von was-auch-immer zuträglich sein.
Humor (bis hin zur Chuzpe) befähigt die schamanische Intervention, in vorstoßender, enthüllender Sichtbarmachung gleichzeitig auf ‚liebevolle Distanz‘ zum Ungelösten, Problematischen etc. zu gehen. Die unwillkürliche Identifikation, ihre Anlässe und Bestandteile werden für eine kürzere oder längere Frist entmachtet. Wer über sich selbst lachen kann oder über die eigenen Angelegenheiten – ohne ihnen den Ernst zu nehmen –, erfährt situative Entlastung. Das schafft Freiraum.***
Nun bleibt die Frage: Wer interveniert eigentlich bei wem?
Diese Frage lässt sich aus schamanischem Blickwinkel nicht verallgemeinerbar und eindeutig beantworten. Ein:e Schaman:in wird etwa in der Hoffnung aufgesucht oder herbeigerufen, er:sie bewirke eine Veränderung beim Gegenüber/bei Anderen/bei etwas. Der:die Schaman:in kann u. U. auch verändernd wirken bzw. zur Veränderung beitragen. Aber wie genau und mit Bezug auf was, bleibt, profan betrachtet, unscharf und muss unscharf bleiben. Die schamanische Intervention ist ein Impuls; manchmal gleitend, manchmal flitzend, manchmal tupfend, manchmal stechend. Wie ich schon andeutete: Dieser Impuls ist immer empathisch. Der:die Schaman:in muss sich ‚hineinversetzen‘, um reagieren zu können. Und er:sie muss sich nicht nur in das ‚hineinversetzen‘, was ihm:r aktuell dargeboten wird; sondern in das, was dahinter, -neben, -drunter und -drüber wirkkräftig und möglich ist. Anders gesagt: Der:die Schaman:in muss sehen und integrieren, was in der Darbietung (noch) nicht sichtbar und integriert ist. Er:sie nimmt quasi vorweg, was bereits ist.
Aus einer gedrehten Perspektive kann das ‚Sich-Hineinversetzen‘ auch als ‚filterlos Aufnahmefähig-und-bereit-Sein‘ angesehen werden. Der:die Schaman:in selektiert – im ersten Schritt – keine Informationen. Er:sie nimmt sie einfach entgegen und lässt sie in sich selbst arbeiten. Die Informationen vernetzen, verdichten und bündeln sich, bis daraus der Impuls entspringt: die schamanische Intervention. Zu Form und Art der Intervention wird ein:e Schaman:in nicht selten durch das Gegenüber oder die dargebotene ‚Sachlage‘ inspiriert. D. h. ein:e Schaman:in interveniert nicht nach Schema F, sondern kreativ. Mir scheint: Dies ist ein zentraler Grund dafür, warum einige Leute Angst oder Vorbehalte gegenüber Schaman:innen haben. Man kann nicht vorhersehen, wie der:die Schaman:in das Dargebotene beantworten wird; ob man ggf. durch die Antwort getriggert oder enttäuscht wird, weil sie den eigenen Wünschen und Erwartungen widerspricht.
Übrigens: Die Unschärfe in schamanischer Veränderungskraft sagt nichts über (mangelnde) Effizienz oder Erfolgsaussichten einer schamanischen Intervention aus. Lediglich: Die Unschärfe hält die jeweiligen Verantwortlichkeiten der Beteiligten klar. Außerdem beugt sie dem Missverständnis vor, dass schamanische Wirk- und (Um-)Gestaltungskraft dasselbe wie Allmacht sei. Ein:e verantwortungsbewusste:r Schaman:in weiß, dass er:sie nicht die totale Kontrolle über Personen und Geschehnisse hat; und wo er:sie dieselbe haben könnte, müsste sie von ihm:r aus ethischen Gründen verweigert werden. Ein:e Schaman:in dringt niemals ungebeten oder ohne vorher um Einlass zu bitten in die ‚Welten‘ Anderer oder ‚andere Welten‘ ein. Und wenn er:sie ‚zu Besuch kommt‘, verhält er:sie sich bescheiden wie ein Gast. Die Radikalität des:r Schaman:in liegt in Sichtvermögen, Hingabebereitschaft, Übersetzungsleistung, sich ableitendem Impuls und methodischem Transfer; nicht im Handlungsmotiv oder -willen selbst. Deshalb antwortet die koreanische Schamanin Hi-ah Park auf die Frage Kannst du mich heilen? grundsätzlich mit einem Nein.
D. h. jeder Mensch, der eine:n Schaman:in aufsucht oder herbeiruft, bleibt mit dem, was er tut, allein – nicht auf pragmatischer Ebene, wo Hilfe möglich ist; sondern auf Ebene der Verantwortlichkeiten. Ein:e Schaman:in kann nur verändernd wirken, wenn sein:ihr Gegenüber zuvor schon schamanisch tätig geworden bzw. der Raum der jeweiligen ‚Welt‘ für schamanische Impulskraft geöffnet ist. Schamanisches Potenzial ist universal menschlich. Deshalb steht es prinzipiell jedem Menschen zur Verfügung. Über Art, Grad und Maß der Verfügbarkeit entscheidet kein Individuum selbst. Niemand kann also schamanisch intervenieren, um sich schamanisch anders oder mehr zu befähigen als ‚vorgesehen‘. Schamanische Praxis verlangt Demut. Die schamanische Intervention gelingt nur vom ‚richtigen Platz‘ aus, in geforderter Korrespondenz, nötiger Bereitschaft, adäquater Interaktion und mit geeigneten Mitteln. Ein:e Schaman:in kommt dorthin, wo er:sie gebraucht wird. Gebraucht wird er:sie dort, wo ohne ihn:sie die schamanische Intervention weder klar genug agiert noch ausreichend Kraft entfalten würde, um Veränderung zu bewirken.
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*Jedenfalls wird die Unterbrechung beabsichtigt. Ob sie immer gelingt, ist eine andere Frage. Nicht jede Intervention verläuft erfolgreich. Manche scheitert schon im Ansatz.
**Dieses Etwas ist so unterschiedlich, wie die Anlässe bzw. ‚Gegenstände‘ schamanischer Arbeit unterschiedlich sind.
***Ich denke übrigens, dass die paradoxe Intervention immer humorvoll ist. Und in der schamanischen Praxis sind paradoxe Techniken ziemlich gängig.
©Foto pixabay
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