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Labradorit. Ein schamanischer Stein


Seit Alters her haben Steine im Schamantum* eine große Bedeutung. Der mongolische Schamane und Schriftsteller Galsan Tschinag sagte mal in einem Interview: „Der Stein ist ein Geheimnis. Das ist der schweigende, eingefrorene Gesang. Schweigende Bilder. Und wenn man die Fähigkeit besitzt, Dinge beleben zu können, dann erzählen sie. [...] Für mich ist der Stein ein Gefährte, der redet.“

Ich mag Tschinags Statement, besonders auch den Satz mit dem Gefährten. Denn in meinem Leben spielt der Labradorit eine besondere Rolle. Er ist mein ständiger Begleiter – nicht nur metaphorisch, sondern physisch und konkret. Ich trage eine Kette mit Labradorit-Perlen am Handgelenk. Außerdem steht ein 8 bis 12cm hoher und 13cm breiter Labradorit auf meiner Fensterbank.

Chemisch gesehen, zählt der Labradorit zu den Feldspaten. Er ist ein weicher Mischkristall. Wegen seiner optischen Eigenschaften wird er gern als Schmuckstein verwendet. Dabei ist er sehr wärme-, flüssigkeits- und reibungsempfindlich (deshalb sind z. B. die Perlen meiner Kette mit einem dünnen Schutzfilm überzogen).

Für mich ist der Labradorit einer der stärksten Steine überhaupt – trotz oder vielleicht ein Stückweit auch wegen seiner empfindlichen Beschaffenheit. Ich kenne keinen anderen Stein, der das Wesen des Schamantum so deutlich in sich trägt und nach außen abbildet. Im Schamantum gilt generell: Steine können spezifische Kräfte containern, persönliche oder kollektive Anbindungen repräsentieren, als Talisman wirken etc. Der Labradorit manifestiert quasi die schamanische Welt-Sicht selbst in Steinform.

Egal in welcher Ära, Erdregion oder Tradition: Jedes schamanische Verständnis geht davon aus, dass die ‚Welt‘ zweigeteilt ist. Die Zweiteilung ist weniger dualistisch als perspektivisch zu verstehen. D. h. Standort und Blickwinkel entscheiden darüber,

  • wie die ‚Welt‘ für uns aussieht

  • was wir darin vorfinden

  • wo(hin) wir uns bewegen können

  • wem wir begegnen

  • was wir tun können etc.

Etwas vereinfacht gesagt: Jede schamanische Welt-Sicht unterscheidet zwischen der ‚Alltagsrealität‘ und einer ‚anderen Seite‘.** Die ‚andere Seite‘ gilt als genauso wirklich wie die ‚Alltagsrealität‘. Sie ist vom ‚Alltagsbewusstsein‘ her aber nicht 1:1 einsehbar. Gleichzeitig sind beide ‚Welten‘ – 'Alltagsrealität' und 'andere Seite' – miteinander verbunden und wirken aufeinander.

Der Labradorit spiegelt genau diese Welt-Sicht bzw. dieses ‚Welt‘-Verhältnis wider – und zwar durch seine Art zu irisieren.***

Das folgende Foto zeigt den Labradorit auf meiner Fensterbank:



Seine Farbe ist hier dunkelgrau bis schwarz. Ich nenne das behelfsmäßig seine Grundfärbung. Von den meisten Positionen her, die man, um ihn herumgehend, einnehmen kann, bleibt er in diesem Farbspektrum. Manchmal deutet sich dezent ein türkis-blauer Schimmer an. Und in ein paar wenigen Positionen findet ein optischer Kipp-Effekt statt. Dann fällt das Licht so auf die Oberfläche des Steins, dass der türkis-blaue Schimmer sich ausweitet und verstärkt. Ein sehr spezifischer Winkel führt dazu, dass fast die gesamte Oberfläche der belichteten Stein-Seite im Schimmer steht. Der Vorgang kann logischerweise auch erzeugt werden, wenn man den Stein bewegt. So im folgenden Video zu sehen:




Die Grundfärbung des Steins steht, in meinen Augen, für die ‚Welt‘ der ‚Alltagsrealität‘ und sein irisierter Zustand für die ‚andere Seite‘. Solch eine Lesart bringt Einiges an Potenzial für die schamanische Praxis mit sich; welches Potenzial, möchte ich im Folgenden an ein paar Beispielen veranschaulichen.


Beispiel 1


Ich nehme meinen Labradorit zwischendurch in die Hände. In der Regel zeigt er erstmal seine Grundfärbung. Dann drehe ich den Stein so, dass seine Oberfläche weit möglichst irisiert. Oder ich erkunde verschiedene Abstufungen des irisierenden Schimmers, indem ich zwischen ihnen und der Grundfärbung umherspiele. Obwohl ich das schon x-mal gemacht habe, bin ich immer noch überrascht von der Kraft, Schönheit und ‚Sprache‘ des Schimmers. Der fließende Wechsel zwischen den Farb-Levels schärft meinen Blick; also nicht nur den meiner biologischen Augen, sondern den meines Geistes. In Hindu- oder Yoga-Jargon würde man jetzt vom Ajna-Chakra sprechen.

Viele schamanische Mental-Übungen arbeiten über die ‚innere Repräsentation‘. D. h. man guckt etwa ein Objekt genau an, widmet sich seinen Details und spürt in seine Konstitution hinein. Danach nimmt man den äußeren Blick weg° und verlagert ihn nach innen, um sich das Objekt vorm ‚inneren Auge‘ vorzustellen.

Ich mache diese und ähnliche Übungen mit meinem Labradorit, um das schamanische ‚Sehen‘ zu schulen. Er ist dafür besonders geeignet, weil ich an ihm nicht nur die ‚Seh‘-Technik trainieren kann, sondern er gleichzeitig die Welt-Sicht des schamanischen Blicks selbst repräsentiert. Ein schamanischer Lehrer sagte mal zu seinem Schüler: „Das ‚Sehen‘ geschieht, wenn man zwischen die Welten schlüpft, zwischen die Welt der normalen Menschen und die Welt der Zauberer.“°° Ich trainiere das schamanische ‚Sehen‘ also gleichzeitig am Symbol seines Ergebnisses und seiner Voraussetzungen. Dieser Umstand mündet für mich in einer kontemplativen Vergegenwärtigung: nämlich dass Schaman:innen „[are] walkers of the liminal, […] able to travel through the threshholds“.


Beispiel 2


Mittlerweile brauche ich meinen Labradorit nur flüchtig in der Grundfärbung anzusehen, und in mir wird eine Intuition abgerufen davon, was ich im ersten Beispiel umrissen habe. Wenn ich an meinem Wohntisch sitze, gucke ich für gewöhnlich Richtung Fenster, wo der Stein steht. Aus diesem Winkel zeigt er seine Grundfärbung. Die Färbung strahlt eine gewisse Gravität, Ruhe und Undurchdringlichkeit aus. Auf den zweiten Blick öffnet sich dahinter schon eine 'zweite Ebene‘. Denn die glattpolierte Oberfläche des Steins wirkt wie ein Spiegel. Ich kann darin die Konturen von Raumumrissen meiner Wohnung, Gegenständen etc. sehen; wenn ich direkt davorsitze, auch mich selbst.

In manchen Momenten, wenn ich durch meine Wohnung gehe, fällt mein Blick (zufällig oder beabsichtigt) auf den Stein. Ich bekomme mit, wie er gerade aus seiner Grundfärbung in einen dezenten Schimmer wechselt; oder er steht schon in leichtem Schimmer. Beide – sowohl die Objekt-Spiegelung als auch das Schimmern – können einen Bewusstseinsreflex in mir bewirken: derart, dass sie mich spontan an das Vorhandensein der ‚anderen Seite‘ erinnern, meine ‚Antennen‘ umswitchen lassen und auf Empfang schalten.

So trainiert mich der Labradorit beiläufig, in Kontakt mit der ‚anderen Seite‘ zu bleiben, während ich meinen Aktivitäten in der ‚Alltagsrealität‘ nachgehe. Auch führt er mir immer wieder vor Augen, dass meine Position und Perspektive entscheiden, wie ‚die Dinge‘ für mich aussehen oder sie sich mir zeigen. Das hilft, mein Denken wachzuhalten – mit Blick auf eigene (Vor-)Urteile, Überzeugungen, Schein-Gewissheiten etc.


Beispiel 3


Der Labradorit gilt gemeinhin als Stein der Wahrheit, Desillusionierung und Aufdeckung von Verborgenem (auch auf psycho-emotionaler Ebene). Mir scheint: Er hat seinen Ruf nicht umsonst. Ich setze mich öfter direkt vor den Stein und meditiere, indem ich seine Anwesenheit auf mich wirken lasse. Daraus resultieren eigentlich immer Einsichten oder -blicke. Wenn mich eine Frage beschäftigt, stelle ich sie laut. Oder ich nehme einfach zur Kenntnis, wie sie in mir erscheint, sobald sie sich in der stillen Präsenz des Steines reflektiert.

Der Stein verbindet mich mit meinem Humor. Er macht mir bewusst, wie kleinkariert jeder – also wirklich jeder – Gedanke ist, sobald er sich aus Geltungssucht (oder -not) aufplustert. In den Labradorit zu sprechen, gibt mir ein Gefühl für die Relativität meiner Worte. Er nimmt ihnen nicht den Sinn, sondern bettet sie zurück in die Verhältnisse und Optionen ihrer Beschaffenheit.


Vielleicht ist nachvollziehbar, wieso ich den Labradorit – im Sinn Galsan Tschinags – als Gefährten empfinde. Er ist wirklich da, mit Charakter, Potenz und Autorität. Dass er spricht, steht für mich außer Zweifel. Er spricht, zeigt und schenkt mir seine Energie, die eine schamanische ist. Dafür bin ich dankbar.


____________________


*Die Schreibweise Schamantum wähle ich bewusst: einerseits um den „Ismus“ im Wort Schamanismus zu vermeiden, andererseits zum Zweck der Gender-Neutralität.


**Die ‚Alltagsrealität‘ umfasst auch alle wissenschaftlichen Techniken und Erkenntnisweisen.

Die ‚andere Seite‘ sollte nicht im Sinn eines Jenseits missverstanden werden, das von der ‚Welt‘ der ‚Alltagsrealität‘ strikt getrennt ist. Auch handelt es sich dabei nicht unbedingt um eine einzige weitere ‚Welt‘. Die Anzahl der ‚Welten‘, in die der Kosmos aufgeteilt wird, variiert je nach schamanischer Tradition. Das Entscheidende an der ‚anderen Seite‘ ist ihre spezifische Qualität, nicht die Anzahl von zusätzlichen ‚Welten‘.

Die Qualität der ‚anderen Seite‘ zeichnet sich dadurch aus, dass, sobald einem Menschen der Zugang dazu eröffnet ist, er in dynamischen, interaktiven Kontakt mit Seinsbereichen tritt, die in der ‚Alltagsrealität‘ verborgen bleiben bzw. höchstens indirekt erfahrbar werden. Man kann in etwa sagen: Die Seinsphänomene der ‚anderen Seite‘ zeigen sich in der ‚Alltagsrealität‘ höchstens anhand von Wirkungen, nicht von Ursachen.

Schaman:innen wissen, dass, solange sie als Menschen leben sollen, sie niemals ganz die Seite wechseln dürfen. Denn wer ganz auf die ‚andere Seite‘ tritt, muss unausweichlich den physischen Tod in Kauf nehmen. Deshalb binden Schaman:innen, wenn sie sich auf die ‚andere Seite‘ begeben, immer einen Teil ihrer ‚Seele‘ in der ‚Alltagsrealität' fest. Bei Ritualen wie einer „Reise“ ins Reich der Toten o. ä. geschieht das mitunter sehr konkret: z. B. indem der:die Schaman:in das eine Ende eines Bandes an seinen:ihren Gürtel, das andere Ende an einem feststehenden Gegenstand der ‚Alltagsrealität‘ befestigt. An dem Band zieht der:die Schaman:in sich am Ende der „Reise“ zurück in die ‚Alltagsrealität‘.


*** Das Irisieren des Labradorits nennt man Labradoreszenz bzw. labradorisieren.


°Zum Beispiel, indem man die Augen schließt oder sie einfach vom Objekt abwendet und woanders hinrichtet.


°°Mir ist wichtig anzumerken, dass es bei der Technik des schamanischen ‚Sehens‘ um etwas sehr Konkretes geht; nicht um etwas, wo man sich reinfantasieren, -pushen oder -steigern kann. Dasselbe gilt für das Zwischen-die-Welten-Schlüpfen. Es gibt eine schamanische ‚Seh‘-Übung, die verdeutlicht, was ich meine. Bei dieser Übung trainiert man die Augen, längerfristig anhaltend zu schielen. Durch die Überkreuzung der Augen-Sichten geht die Orientierung durch den ‚alltäglichen‘ Blick verloren. Der:die schamanische Schüler:in wird aufgefordert, während er:sie schielt, eine – oft sehr herausfordernde – Aufgabe in der ‚Alltagsrealität‘ zu vollziehen. Die Orientierung dabei muss ‚von woanders‘ kommen. Eine andere, vom Zweck her ähnliche Aufgabe ist: bei nächtlicher Dunkelheit durch einen Wald zu rennen und/oder in schnellem Tempo einen Berg herabzusteigen, den man vorher erklommen hat, und ‚den Weg zu finden‘.

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