(Teil 1)
Vorletzten Freitag war ich für einen Team-Tag angefragt worden. Ich coachte in-house bei einem Hamburger Unternehmen. Das Team wollte etwas über einen bestimmten fachlichen Handlungsansatz lernen und mit mir Transfer-Optionen für die Arbeitspraxis entwickeln.
Ein Mitarbeiter verhielt sich auffällig interessiert. Umso irritierter war er, als ich Teile des Ansatzes direkt nach meinen Erläuterungen wieder ‚auseinandernahm‘. Er sagte: „Hä? Das verunsichert mich.“ Ich fragte: „Warum?“ Er antwortete: „Ich weiß nicht, wie ich jetzt noch mit dem Ansatz arbeiten kann.“
Vergleichbare Situationen erlebe ich immer wieder, z. B. mit Student:innen an der Hochschule. Sie sind überrascht von meiner didaktischen Vorgehensweise und meinem Jargon. Wenn wir darüber ins Gespräch gehen, reden sie ähnlich wie der Mitarbeiter auf dem Team-Tag: sie würden sich irritiert fühlen, unsicher, verwirrt, konfus.
Das ist insofern bemerkenswert, als in allgemeinbildenden staatlichen Schulen „kritisches Denken“ hochgehalten wird (jedenfalls nah über der Oberfläche). Was anscheinend weniger selbstverständlich ist: das kritische Denken auf jedes Wissen, jede kognitiv verarbeitbare Information, jede Einschätzung anzuwenden. Solange man sich in der eigenen Position ‚sicher‘ fühlt, ist man gerne kritisch – gegenüber allem, was nicht zum Erhalt der eigenen Position geschützt werden will. Sobald die eigene Position – inkl. Vorteilen, Interessen, Gewohnheiten, Wünschen, Annehmlichkeiten etc. – angetastet wird, sieht die Sache schnell anders aus.
Irritation, Verunsicherung, Unsicherheit, Verwirrung, Konfusion. Bis zu einem gewissen Grad ist es menschlich, diese Phänomene vermeiden zu wollen. Menschen sind Gewohnheitstiere. Das Gehirn fungiert, soweit es Denk-Apparat ist, als Ordnungs- und Kontrollinstanz. Menschen wollen sich sicher fühlen und das Gefühl haben, alles Notwendige (und um der Attraktivität willen vielleicht noch etwas mehr) zu überblicken.
Ich denke: Es gibt zwei Grundformen von Sicherheit. Die erste wächst von ‚innen‘ her und ist entsprechend nachhaltig; die zweite wird von ‚außen‘ geliefert und hängt entsprechend von ständigem Nachschub ab. ‚Innere‘ Sicherheit nährt sich aus sich selbst. Ihre Quellen und ihr Erzeugnis bilden einen eigenständigen Kreislauf. Von ‚außen‘ bewirkte Sicherheit braucht eine Überbrückung. Denn ihre Quellen sind – abgesehen von kurzen Momenten oder Phasen – von ihrem Erzeugnis getrennt.
Das Gefühl von ‚innerer‘ Sicherheit scheint heutzutage in vielen Menschen nur schwach ausgeprägt bzw. kaum vorhanden. Deshalb brauchen sie umso dringender Sicherheit(en) von ‚außen‘. Derart kompensieren sie, was ‚innen‘ fehlt. Zu den Sicherheiten von ‚außen‘ gehören auch Bestätigung jeder Couleur, Legitimation durch (vermeintliche) Autoritäten oder Orientierung in der Werte-Logik. Man wird sicher durch das, was Andere mit und als Sicherheit in den Raum stellen.
Jede Sicherheit von ‚außen‘ kann aus verschiedenen Gründen zu bröckeln beginnen. Viele Menschen gehen dann entweder in eine Form der Notwehr-Aggression. Oder sie finden sich irgendwo in der Kettenlogik wieder, in der auch der Mitarbeiter auf dem Team-Tag oder die Hochschul-Student:innen gelandet sind. Ich möchte die einzelnen Elemente dieser Kettenlogik kurz skizzieren:
Wenn etwas vor sich geht, das eine Sicherheit von ‚außen‘ fragwürdig erscheinen lässt, folgt zuerst die Irritation. Irritation signalisiert, dass ein bestehendes Ordnungs- und Orientierungsmuster momentan nicht greift; ein alternatives Muster gibt es noch nicht.
Wenn dem Gehirn misslingt, ad hoc neue Marker für Ordnung und Orientierung zu erstellen, folgt Verwirrung bzw. Konfusion. Sie resultiert aus einer erfolglosen Anfreundung bisher gültiger Marker und dem Input, der die ‚alte‘ Sicherheit infrage gestellt hat.
Wer verwirrt bzw. konfus ist, befindet sich in einem Deutungskonflikt. Für den Konflikt scheint keine Lösung parat. Deshalb blickt man nicht mehr durch. Wenn weiterhin neue Marker ausbleiben, kommt es zur Verunsicherung.*
Verunsicherung ist ein Prozess. Sie vollzieht sich. Wer verunsichert ist und keine neue Sicherheit gewinnt, wird unsicher. Unsicherheit ist kein Prozess, sondern ein Zustand. In ihr kriegt die Verunsicherung eine Form von (zumindest zeitweiliger) Kontinuität. Damit einher geht eine qualitative Verschiebung: Wer unsicher ist, hat Verunsicherung als Teil der Persönlichkeitsmatrix verinnerlicht.
In den Reaktionen des Mitarbeiters und der Student:innen, die ich zu Beginn des Artikels beschrieben habe, drückt sich – mehr oder weniger direkt – ein Wunsch aus. Er lautet: Die Irritation, Verunsicherung etc. sollen zu Ende gehen. Offenbar sind sie unangenehm, negativ geframt und tendenziell schwer auszuhalten. Das Gehirn wittert Gefahr. Zusätzlich gibt es ein soziokulturell gefestigtes Narrativ, demgemäß Irritation nicht gut ist, Konfusion auch nicht, Unsicherheit schon gar nicht.
Wahrscheinlich hat die Minus-Behaftung viel mit gesellschaftlichen Erwartungen zu tun – oder mit dem, wovon man denkt, die Gesellschaft würde es von mir erwarten. Wenn man sich in Irritation, Verunsicherung etc. nicht „hineinentspannen“ kann, verursachen sie inneren Stress. Psychologie und Bildende Kunst nennen das horror vacui, die Angst vor der weißen Leinwand, vor tabula rasa. Aufs menschliche Leben an sich bezogen, geht es wohl um die Angst vor dem Nichts hinter unhaltbaren Schein-Gewissheiten.** In einer Gesellschaft (oder Kultur), wo solche Schein-Gewissheiten den Kitt der Verständigung bilden, setzt sich, sobald er brüchig wird, viel Angst frei.
Mir fällt Immanuel Kant mit seinem berühmten Ausspruch ein: Aufklärung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Die Frage der eigenverantwortlichen Mündigkeit stellt sich heutzutage vielleicht noch drastischer als zu Kants Lebzeiten. Denn die Liste ‚äußerer‘ Sicherheiten, die in sog. liberalisierten Gesellschaften wegfallen, wird immer länger. Das 20. Jahrhundert relativierte:
Religion
Nation
Familie
jede an diesen Dreibund geknüpfte Moral
Das 21. Jahrhundert relativierte bislang:
Geschlecht bzw. Gender
Konstitution°
Information°°
Daraus resultiert eine unübersichtliche Gemengelage behelfsmäßiger Ersatz-Schirmungen, inkl. Moral-Programme. Man greift kurzschlusshaft und instinktiv nach neuen ‚äußeren‘ Sicherheiten, anstatt sich auf die Frage nach Bedingungen und Potenzial ‚innerer‘ Sicherheit einzulassen.
Die labile Beschaffenheit der neuen ‚äußeren‘ Sicherheiten zeigt sich in mannigfacher Symptomatik. Sie reicht von der Normalisierung einer digitalen Block- und Bash-Kultur gegen Andersdenkende über Social Media-Sucht bis zur Überproduktion wissenschaftlicher Erklär- und Deutungsansätze mit geringer Halbwertszeit. Aus tiefenpsychologischer Perspektive ist diese Dynamik nachvollziehbar, aus ganzheitlicher paradox. Man hält die Konfrontation mit eigener und gesamtgesellschaftlicher Fragilität für bedrohlicher als die Pseudo-Stabilität kurzlebiger ‚äußerer‘ Sicherheiten.
Trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - ist die Erleichterung an Orten groß, wo die Maske der gefakten Souveränität fallen darf. Die Angst vor Sanktionen oder Exklusionen verflüchtigt sich. Sobald Demaskierung sich mit Humor paart, können sogar unbedarfter Forschungsgeist, Neugier auf Neues und Vertrauen ins Einfach-Sein wieder aufflackern. Dies wurde mir im weiteren Gespräch sowohl mit dem Mitarbeiter auf dem Team-Tag als auch den Student:innen an der Hochschule deutlich. Alle von ihnen mussten schmunzeln oder lachen, wenn ich ihnen entgegnete: „Ich kann dich nur dazu ermutigen, dich verunsichern zu lassen.“ Oder: „Was ist so schlimm daran, wenn du irritiert bist? Dann sei doch irritiert. Sei konfus.“
(Teil 2 folgt.)
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*Verunsicherung kann auch direkt nach der Irritation einsetzen. In diesem Fall versucht eine Person gar nicht erst, neue Marker für Ordnung und Orientierung zu erstellen. Sie liefert sich der entstandenen Leerstelle ohne Widerstand aus bzw. gibt sich ihr hin.
**Ich formuliere es nochmal metaphorisch (und etwas pathetisch): Die Traggurte, mit denen die Vergangenheit die Gegenwart hält, werden durchschnitten. Die Vergangenheit fällt zu Boden. Die Gegenwart taumelt im Angesicht einer unbekannten Zukunft, die nicht mehr auf das Bewährte von gestern zurückgreifen kann.
°Damit meine ich, dass per gesellschaftlichem Agreement das konstruiert-fiktive Image die ‚Realität‘ ersetzen kann. Davon zeugt z. B. die Wendung „no filter“, wenn jemand ein Foto postet, das nicht irgendwie nachträglich bearbeitet und hierdurch ästhetisiert wurde. Das Belassene bildet mittlerweile die Ausnahme und wird deshalb mitunter bewusst kenntlich gemacht.
°°Fake News halte ich in dieser Hinsicht nur für die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs.
©Foto pixabay
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